Es gibt im Menschen zwei verbündete Mächte: Wissen und Weisheit.
Wissen ist so viel von der in einem entstellten Medium erblickten Wahrheit, wie das Mental ertasten kann; Weisheit ist, was das Auge göttlicher Vision im spirituellen Geist sieht.
Sri Aurobindo
Sri Aurobindos Kindheit und Jugend waren geprägt von der englischen bzw. europäischen Lebensweise, auf die sein Vater besonderen Wert legte. Seine Ausbildung setzte sich mit sieben Jahren auf Wunsch des Vaters in England fort, wo er sich als gelehriger Schüler hervortat und diverse Auszeichnungen und Preise erhielt. Das alles trotz der Nöte, denen er wegen des unregelmäßigen oder gar nicht eintreffenden Studiengeldes seines Vaters ausgesetzt war.
Sri Aurobindo interessierte sich für die englische und französische Literatur, englische Dichtung und die Geschichte Europas. Er durchlief das King´s College in Cambridge mit Bravour und erhielt weitere öffentliche Anerkennungen.
Als er nach vierzehn Jahren England nach Indien zurückkehrte, hatte er nichts über sein Heimatland, dessen Kultur oder Religion erfahren. Trotzdem hüllte ihn sofort nach seiner Ankunft eine unerklärliche Stille ein, die ihn monatelang nicht verlasssen sollte. Das war gleichzeitig der Beginn seiner sich immer weiter fortsetzenden spirituellen Erfahrungen und Studien.
Sri Aurobindo war ein Kind beider Welten: der westlichen und der östlichen. Er hatte sie nicht nur studiert, sondern am eigenen Leib erfahren. Trotzdem konnte er der europäischen Lebensart nicht viel abgewinnen, er empfand sie als "barbarisch".
In diesen Tagen vollenden wir als Menschheit einen bedeutenden Schritt auf unserem Weg in die Zukunft, der unser spirituelles Voranschreiten erleichtern wird. Diese von äußeren Krisen gebeutelte Welt wird befriedet und die Menschen aller Nationen erwartet ein gleichberechtigtes Leben in Sicherheit und Wohlstand, erleichtert und unterstützt durch technologischen Fortschritt.
Soll das subjektive Zeitalter der Menschheit seine besten Früchte tragen, müssen sich die Nationen nicht nur ihrer eigenen, sondern auch der Seele der
anderen bewusst werden und lernen, sich gegenseitig nicht nur wirtschaftlich und erkenntnismäßig, sondern auch subjektiv und geistig zu achten, zu helfen und zu
fördern.
Sri Aurobindo
Anlässlich der Feierlichkeiten zu seinem Geburtstag in New York am 15. August 1949 wurde Sri Aurobindo um eine Botschaft an den Westen gebeten. Heute jährt sich dieser Jahrestag, und es bietet sich an, seine Botschaft erneut in die Welt zu senden:
Botschaft Sri Aurobindos an den Westen vom 11. August 1949
Ich wurde gebeten, anlässlich des 15. August eine Botschaft an den Westen zu senden, aber was ich zu sagen habe, könnte auch als Botschaft an den Osten übermittelt werden. Es ist üblich, sich mit der Trennung und den Unterschieden zwischen diesen beiden Teilen der Menschheitsfamilie zu befassen und sie sogar gegeneinander auszuspielen; ich selbst würde jedoch lieber über Einheit und Einigkeit sprechen, als über Trennung und Unterschiede. Ost und West haben dieselbe menschliche Natur, ein gemeinsames menschliches Schicksal, dasselbe Streben nach einer größeren Vollkommenheit, dasselbe Streben nach etwas Höherem als sich selbst, etwas, auf das wir uns innerlich und sogar äußerlich zubewegen. In manchen Köpfen besteht die Tendenz, sich mit der Spiritualität oder Mystik des Ostens und dem Materialismus des Westens zu befassen; aber der Westen hatte nicht weniger als der Osten sein spirituelles Streben und, wenn auch nicht in dieser Fülle, seine Heiligen, Weisen und Mystiker, der Osten hatte seine materialistischen Tendenzen, seine materielle Prachtentfaltung, seinen ähnlichen oder identischen Umgang mit dem Leben und der Materie und der Welt, in der wir leben. Ost und West haben sich immer getroffen und mehr oder weniger eng vermischt, sie haben sich gegenseitig stark beeinflusst und stehen heute mehr denn je unter dem Zwang der Natur und des Schicksals, dies zu tun.
Es gibt eine gemeinsame Hoffnung, eine gemeinsame Bestimmung, sowohl geistig als auch materiell, für die beide als Mitarbeiter gebraucht werden. Wir sollten unsere Gedanken nicht mehr auf die Trennung und den Unterschied richten, sondern auf die Einheit, die Vereinigung, ja das Einssein, das notwendig ist, um ein gemeinsames Ideal zu verfolgen und zu verwirklichen, das bestimmte Ziel, die Erfüllung, zu der sich die Natur in ihrem Anfang unklar auf den Weg gemacht hat und in einem zunehmenden Licht der Erkenntnis, das an die Stelle ihrer ersten Unwissenheit tritt, immer weiter fortschreiten muss.
Was aber soll dieses Ideal und dieses Ziel sein? Das hängt von unserer Vorstellung von den Realitäten des Lebens und der höchsten Wirklichkeit ab.
Hier müssen wir berücksichtigen, dass es keinen absoluten Unterschied, sondern eine zunehmende Divergenz zwischen den Tendenzen des Ostens und des Westens gegeben hat. Die höchste Wahrheit ist die Wahrheit des Geistes (spirits); ein Geist, der über der Welt steht und doch in der Welt und in allem, was existiert, immanent ist, der alles erhält und zu dem führt, was das Ziel und der Zweck ist, und die Erfüllung der Natur seit ihren obskuren, unbewussten Anfängen durch das Wachstum des Bewusstseins ist der eine Aspekt der Existenz, der einen Hinweis auf das Geheimnis unseres Seins und einen Sinn für die Welt gibt.
Der Osten hat immer und in zunehmendem Maße den höchsten Nachdruck auf die höchste Wahrheit des Geistes gelegt; er hat, selbst in seinen extremen Philosophien, die Welt als eine Illusion beiseite geschoben und den Geist als die einzige Realität betrachtet. Der Westen hat sich immer mehr auf die Welt konzentriert, auf den Umgang des Geistes (minds) und des Lebens mit unserem materiellen Dasein, auf die Beherrschung desselben, auf die Vervollkommnung des Mentals und des Lebens und eine gewisse Erfüllung des Menschen hier: das ging zuletzt so weit, dass man den Spirit leugnete und sogar die Materie als einzige Wirklichkeit inthronisierte. Die spirituelle Vollkommenheit als einziges Ideal auf der einen Seite, auf der anderen die Vollkommenheit der Rasse, die vollkommene Gesellschaft, eine vollkommene Entwicklung des menschlichen Geistes (minds) und Lebens und die materielle Existenz des Menschen sind zum größten Traum der Zukunft geworden. Doch beides sind Wahrheiten und können als Teil der Intention des Geistes in der Weltnatur betrachtet werden; sie sind nicht unvereinbar miteinander: vielmehr muss ihre Divergenz geheilt und beides in unsere Sicht der Zukunft einbezogen und ausgesöhnt werden.
Die Wissenschaft des Westens hat die Evolution als das Geheimnis des Lebens und seines Prozesses in dieser materiellen Welt entdeckt; aber sie hat mehr Wert auf das Wachstum der Formen und Arten gelegt, als auf das Wachstum des Bewusstseins: Das Bewusstsein wurde sogar als ein Ereignis und nicht als das ganze Geheimnis der Bedeutung der Evolution betrachtet. Eine Evolution wurde von bestimmten Denkern im Osten, bestimmten Philosophien und Schriften zugegeben, aber dort war ihr Sinn das Wachstum der Seele durch sich entwickelnde oder aufeinanderfolgende Formen und viele Leben des Individuums zu ihrer eigenen höchsten Realität. Denn wenn es ein bewusstes Wesen in der Form gibt, kann dieses Wesen kaum eine vorübergehende Bewusstseinserscheinung sein; es muss eine Seele sein, die sich selbst erfüllt, und diese Erfüllung kann nur stattfinden, wenn die Seele in vielen aufeinanderfolgenden Leben, in vielen aufeinanderfolgenden Körpern zur Erde zurückkehrt.
Der Prozess der Evolution war die Entwicklung aus und in der unbewussten Materie eines unterbewussten und dann eines bewussten Lebens, des bewussten Geistes zuerst im tierischen Leben und dann vollständig im bewussten und denkenden Menschen, der höchsten gegenwärtigen Leistung der evolutionären Natur. Die Errungenschaft des mentalen Wesens ist gegenwärtig ihre höchste und neigt dazu, als ihr letztes Werk betrachtet zu werden; aber es ist möglich, sich eine noch weitergehende Stufe der Evolution vorzustellen: Die Natur mag über den unvollkommenen Verstand des Menschen hinaus ein Bewusstsein im Auge haben, das die Unwissenheit des Verstandes überwindet und die Wahrheit als sein innewohnendes Recht und seine Natur besitzt. Es gibt ein Wahrheitsbewusstsein, wie es in den Veden genannt wird, einen Superverstand (supermind), wie ich ihn genannt habe, der das Wissen besitzt, ohne danach suchen zu müssen und es ständig zu verfehlen. In einer der Upanishaden wird ein Wesen der Erkenntnis als die nächste Stufe über dem mentalen Wesen bezeichnet, in das sich die Seele erheben muss und durch das sie die vollkommene Glückseligkeit der spirituellen Existenz erlangen kann. Wenn das als nächste Evolutionsstufe der Natur hier erreicht werden könnte, dann wäre sie erfüllt, und wir könnten uns die Vollkommenheit des Lebens sogar hier vorstellen, die Erlangung eines vollen spirituellen Lebens sogar in diesem Körper oder vielleicht in einem vervollkommneten Körper. Wir könnten sogar von einem göttlichen Leben auf Erden sprechen; unser menschlicher Traum von der Vollkommenheit würde sich erfüllen und gleichzeitig das Streben nach einem Himmel auf Erden, das mehreren Religionen und spirituellen Sehern und Denkern gemeinsam ist.
Der Aufstieg der menschlichen Seele zum höchsten Spirit ist das höchste Ziel und die Notwendigkeit dieser Seele, denn das ist die höchste Wirklichkeit; aber es kann auch den Abstieg des
Spirits und seiner Kräfte in die Welt geben, und das würde zugleich die Existenz der materiellen Welt rechtfertigen, der Schöpfung einen Sinn, einen göttlichen Zweck geben und ihr Rätsel lösen.
Ost und West könnten im Streben nach dem höchsten und größten Ideal versöhnt werden. Der Spirit umarmt die Materie und die Materie findet ihre eigene wahre Realität und die verborgene Realität in
allen Dingen im Spirit.
August 11, 1949
Sieben Jahre später, im Februar 1956, fand letztendlich statt, woran Sri Aurobindo und die Mutter unermüdlich gearbeitet hatten: die Herabkunft des Supramentals auf die Erde; jenes Wahrheitsbewusstsein, das der Lüge in all ihren Formen nun weltweit Einhalt gebietet, jedem Menschen, der es sucht, zugänglich ist und ihm ermöglicht, die nächste Stufe der Evolution zu erklimmen.
Hört auf zu denken, ihr kommt aus dem Westen, die anderen aus dem Osten.
Alle Menschen sind von gleicher göttlicher Herkunft, und es ist ihnen bestimmt,
das Einssein dieser Herkunft auf Erden zu manifestieren.
Die Mutter