Das wahre vollkommene spirituelle Ziel der Gesellschaft wird den Menschen nicht als Mentales, als Leben und Körper betrachten, sondern als Seele, die sich zu göttlicher Erfüllung auf der Erde, nicht nur im jenseitigen Himmel, verkörpert.
Sie hätte ja den Himmel nicht zu verlassen brauchen, hätte sie nicht eine göttliche Aufgabe hier in der Welt der physischen, vitalen und mentalen Natur zu vollbringen. Das geistige Ideal wird deshalb Leben, Mentales und Körper nicht an sich als Ziel der eigenen Befriedigung ansehen, auch nicht als sterbliche Glieder, anfällig für Krankheiten, die man nur abzustreifen braucht, um den geretteten Spirit in seine eigenen, reinen Bereiche auffliegen zu lassen; sondern sie sind die wichtigsten Werkzeuge der Seele, im Augenblick noch unvollkommene Werkzeuge für noch nicht erkannte göttliche Zwecke. Das geistige Ziel aber glaubt an ihre Bestimmung und wird ihnen helfen, an sich selbst zu glauben, eben um dieser ihrer höheren und nicht wegen der niedersten oder niederen Möglichkeiten willen. Seiner Auffassung nach ist es ihre Bestimmung, sich zu spiritualisieren und damit sichtbare Glieder des Spirits zu werden, erleuchtete Mittel seiner Offenbarung, selbst geistig, erleuchtet, immer bewusster und vollkommener.
Denn wenn die Gesellschaft die menschliche Seele als etwas vollkommen Göttliches, als Wahrheit annimmt, wird sie auch die Möglichkeit bejahen, dass das ganze menschliche Wesen trotz der zunächst bestehenden offensichtlichen Widersprüche der Natur gegen diese Möglichkeit, trotz ihrer Leugnung dieser höchsten Gewissheit göttlich zu werden vermag, sogar mit diesen Hemmnissen als dem notwendigen irdischen Ausgangspunkt. Und so, wie sie den Menschen als Individuum betrachtet, wird sie ihn auch im Kollektiv als eine Seelenform des Unendlichen, als eine in Millionenzahl auf Erden verkörperte Kollektivseele ansehen, bestimmt zur Erfüllung des Göttlichen in seinen mannigfachen Beziehungen und Handlungen. Darum wird sie all die verschiedenen Teile des menschlichen Lebens, die den Teilen seines Seins entsprechen, all seine physische, vitale, dynamische, gefühlsmäßige, ästhetische, ethische, intellektuelle und spirituelle Entfaltung heilig halten und in ihnen Werkzeuge zum Wachstum des göttlicheren Lebens sehen. Vom gleichen Standpunkt aus werden für sie jede menschliche Gesellschaft, Nation, Volk oder jedes andere organische Gefüge sozusagen Unter-Seelen bedeuten, Mittel einer komplexen Offenbarung und Selbsterfüllung des Spirits, der göttlichen Wirklichkeit, das bewusste Unendliche im irdischen Menschen. Da der Mensch innerlich eins ist mit Gott, wird die Möglichkeit seiner Göttlichkeit sein einziger Glaube, sein einziges Dogma sein.
Die Gesellschaft wird aber nicht versuchen, selbst dieses eine erhabene Dogma durch äußeren Zwang den niederen Gliedern des menschlichen Wesens aufzudrängen. Dies wäre nigraha, eine sinnwidrige Unterdrückung der Natur, die wohl zu einer scheinbaren Unterdrückung des Bösen führen kann, nicht aber zu einem wirklich gesunden Wachstum des Guten. Sie wird eher dies Glaubensbekenntnis und Ideal als leitendes Licht, als schöpferische Erkenntnis für alle ihr Zugehörigen bewahren, damit diese aus dem eigenen Inneren heraus zur Gottheit gelangen und in Freiheit göttlich werden können. Weder im Individuum noch im Kollektiv wird die Gesellschaft Gefängnis, Einmauerung, Unterdrückung und Verarmung anstreben, sondern wird so viel als möglich freie Luft und helles Licht hereinlassen. Umfassende Freiheit wird das Gesetz einer spirituellen Gesellschaft sein. Die Zunahme dieser Freiheit wird einen Maßstab darstellen für das Wachstum der menschlichen Gesellschaft zur wahren Spiritualität hin.
Niemals kann der Versuch erfolgreich sein, eine Gesellschaft von Sklaven zu vergeistigen, Sklaven der Macht, der Autorität, der Sitte, des Dogmas und aller Arten auferlegter Gesetze, unter denen, oder besser gesagt, durch die sie leben, innerliche Sklaven ihrer eigenen Schwäche, ihrer Unwissenheit und ihrer Leidenschaften, von deren schlimmsten Auswirkungen sie durch eine andere, äußere Sklaverei befreit werden wollen oder müssen. Alle diese müssen zunächst ihre Fesseln abwerfen, um für eine höhere Freiheit bereit zu sein.
Wohl hat der Mensch manches Joch auf seinem Weg aufwärts zu tragen. Aber nur das Joch wird ihm wirklich eine Hilfe sein, das er freiwillig auf sich genommen hat, weil es dem höchsten, inneren Gesetz seiner Natur und seines Strebens entspricht, und zwar möglichst vollkommen entspricht. Andernfalls muss der Mensch für seine Erfolge schwer zahlen. Außerdem wird es seine Entwicklung ebenso sehr oder sogar mehr hemmen, als es auf der anderen Seite den Fortschritt beschleunigt.
Das geistige Ziel wird erkennen, dass der Mensch auf dem Weg seines Wachstums möglichst viel freien Raumes bedarf, damit alle seine Glieder ihre eigenen Kräfte entfalten können, damit sie sich selbst und ihre Möglichkeiten erkennen. Wohl wird der Mensch in seiner Freiheit irren, da Erfahrung durch manchen Irrtum entsteht. Jeder aber trägt in sich selbst ein göttliches Grundgesetz, das er herausfinden, dessen Bestehen, Bedeutung und Ordnung er aufzeigen wird, je mehr die Erfahrung seiner selbst sich vertieft und erweitert. Deshalb wird wahre Spiritualität Wissenschaft und Philosophie nicht unterjochen oder zwingen, ihre Schlüsse irgendeiner dogmatisch religiösen Wahrheit anzugleichen, selbst nicht einer gewonnenen geistigen Wahrheit, wie dies einige der alten Religionen vergeblich versuchten, unwissend, aus einer ungeistigen Eigenwilligkeit und Einbildung heraus.
Jeder Teil des menschlichen Wesens hat sein eigenes Gesetz, dharma, dem es folgen muss und auch letztlich folgen wird, welcherlei Bindungen ihm auch auferlegt werden. Gesetz des Wissens, des Denkens und der Philosophie ist die leidenschaftslose, vorurteilsfreie und unvoreingenommene intellektuelle Suche nach der Wahrheit, ohne irgendwelche andere Voraussetzungen als die vom Gesetz des Denkens und der Beobachtung selbst gestellten. Wissenschaft und Philosophie sind nicht gehalten, ihre Beobachtungen und Schlussfolgerungen irgendeiner gebräuchlichen Idee eines religiösen Dogmas, einer ethischen Regel oder eines ästhetischen Vorurteils anzupassen. Sie werden, wenn sie frei sich entwickeln können, letztendlich die Einheit der Wahrheit mit dem Guten, dem Schönen, mit Gott finden. Dies wird für sie von größerer Bedeutung sein, als dies für uns jede dogmatische Religion, jede formale Ethik oder jede beschränkte ästhetische Idee sein kann. In der Zwischenzeit aber muss ihnen die Freiheit gelassen werden, wenn sie es wollen, wenn die ernste Beobachtung der Dinge sie dazu führt, selbst Gott, das Gute und Schöne zu verleugnen. Denn alle Ablehnung wird am Ende des Kreislaufs wieder aufwärts führen und eine umfassende Wahrheit über die Dinge ermöglichen, die man zunächst verworfen hat. Häufig wird man feststellen müssen, dass der Atheismus des Individuums oder der Gesellschaft ein notwendiger Übergang ist zu tieferer, religiöser und geistiger Wahrheit. Manchmal muss man Gott leugnen, um ihn zu finden.
Das Finden aber ist unvermeidlich am Ende aller ernsten Skepsis und Leugnung.
Dasselbe Gesetz gilt für die Kunst. Das ästhetische Wesen im Menschen erhebt sich in gleicher Weise in einer ihm eigenen Kurve zu seinen göttlicheren Möglichkeiten. Höchstes Ziel des ästhetischen Wesens ist das Finden des Göttlichen durch die Schönheit. Die vollendete Kunst vermag durch vergeistigte Anwendung sinnvoller und deutender Formen die Tore des Spirits zu öffnen. Um aber dieses hohe Ziel umfassend und ernsthaft zu erreichen, muss die Kunst zuerst Mensch, Natur und Leben um ihrer selbst willen, nach den ihnen eigenen Merkmalen der Wahrheit und Schönheit beschreiben. Denn hinter diesen äußeren Merkmalen liegt stets die Schönheit des Göttlichen in Leben, Mensch und Natur. Nur durch ihre rechte Gestaltung kann das von ihnen zunächst Verschleierte offenbar gemacht werden. Die Lehre, die Kunst müsse religiös sein, oder aber sie dürfe überhaupt nicht bestehen, ist falsch, ebenso wie die Forderung, sie müsse der Ethik oder Zweckmäßigkeit, der wissenschaftlichen Wahrheit oder philosophischen Ideen dienen. Kunst mag diese Dinge als Elemente nutzen. Sie hat aber ihr eigenes Grundgesetz, svadharma. Indem sie diesen eigenen natürlichen Richtlinien folgt und nur dem eingeborenen Gesetz des eigenen Wesens gehorcht, wird sie höchster Geistigkeit teilhaftig sein.
Selbst für die niedere Natur im Menschen, bei der man naturgemäß zur Annahme verleitet sein könnte, Zwang sei das einzige Heilmittel, wird das geistige Ziel eine freie Selbstregelung und eine Entwicklung von innen her anstreben und nicht eine Unterdrückung des dynamischen und vitalen Wesens von außen. Alle Erfahrung zeigt, dass dem Menschen eine gewisse Freiheit zum Straucheln in seinem Handeln, zum Irren in seinem Wissen so lange gegeben sein muss, bis er sich von innen her von falscher Tat und Irrtum befreit hat. Auf andere Weise kann er nicht wachsen. Um ihrer selbst willen muss die Gesellschaft dynamische und vitale Menschen in Schranken halten. Dies allein legt dem Teufel nur Ketten an und mildert im besten Fall seine Handlungsweise in zivilisierte Formen ab. Ausgeschaltet aber wird er nicht und kann er auch nicht werden. Die wirkliche Tugend eines dynamischen und vitalen Seins, das Leben des Purusha, kann nur die Folge davon sein, dass der Mensch in sich selbst für seine Tätigkeit ein höheres Gesetz und geistiges Streben lebendig macht. Diese ihm zu geben, seinen Impuls zu erleuchten und zu verwandeln, nicht aber, ihn zu zerstören, ist das wahre geistige Mittel der Erneuerung.
So wird Geistigkeit auch die Freiheit der niederen Glieder achten, sie aber doch nicht sich selbst überlassen, sondern ihnen die Wahrheit des Spirits in ihnen selbst aufzeigen. Sie wird sie ihnen in ihre eigenen Tätigkeitsbereiche übersetzen und sie in einem Lichte darstellen, das alle ihre Handlungen erleuchtet und sie das höchste Gesetz der eigenen Freiheit erkennen lässt. Sie wird zum Beispiel nicht dem wissenschaftlichen Materialismus zu entrinnen suchen durch sinnlose Ablehnung des physischen Lebens oder durch Leugnung der Materie selbst. Vielmehr wird sie dem skeptischen Verstand folgen, wenn er selbst bestätigt oder verneint, und ihm dort das Göttliche zeigen. Vermag Geistigkeit dies nicht, dann beweist sie nur, dass sie selbst unerleuchtet oder schwach ist, dass nur eine Seite von ihr dem Licht zugekehrt ist. Die Vitalität im Menschen lässt sich nicht durch Leugnung des Lebens vernichten. Spirituelle Geistigkeit muss vielmehr dem Leben das Göttliche aufzeigen, das es als Grundgesetz einer eigenen Wandlung in sich trägt. Vermag sie dies nicht, dann ist sie selbst noch nicht tief genug in den Sinn der Schöpfung und das Geheimnis des Avatar eingedrungen.
Das spirituelle Ziel wird sich deshalb in der Fülle des Lebens und des menschlichen Seins im Individuum wie im Kollektiv zu erfüllen suchen. Die Fülle des Lebens wird die Grundlage bilden für die Höhen des Geistes und wird letzten Endes eins werden mit dem höchsten Gipfel. Dabei wird sie nicht den Körper verächtlich vernachlässigen, sie wird auch nicht das vitale Sein asketisch aushungern, wird als Regel des geistigen Lebens nicht äußerste Kargheit oder gar Entwertung setzen, noch verlangen, dass Kunst, Schönheit und ästhetische Lebensfreude puritanisch geleugnet, Wissenschaft und Philosophie als arme, nicht zu beachtende oder irreführende intellektuelle Bestrebungen angesehen und vernachlässigt werden. Freilich muss zugegeben werden, dass selbst diese Übersteigerungen zeitweilig nützlicher sein können als Auswüchse in die entgegengesetzte Richtung.
Das geistige Ziel wird allumfassend sein für alle, aber es wird zugleich das höchste Ziel und den tiefsten Sinn einschließen, wie es auch der allumfassende Ausdruck des Lebens sein wird, in dem alles, was es ist und sucht, Erfüllung finden wird. In der Gesellschaft wird es eine wahre, innere Theokratie anstreben, nicht die falsche einer herrschenden Kirche oder Priesterschaft. Es wird vielmehr die Theokratie des inneren Priesters, Propheten und Königs aufbauen. Es wird dem Menschen die Göttlichkeit in sich selbst offenbaren als Licht, Kraft, Schönheit, Güte, Freude und Unsterblichkeit. Es wird zeigen, dass sie in ihm wohnen, und wird zugleich in seinem äußeren Leben das im Innern entdeckte Königreich Gottes aufbauen. Es wird dem Menschen den Weg zeigen, mit jedem Teil seines Seins nach dem Göttlichen zu streben, sarvabha vena, und es dadurch zu finden und in ihm zu leben, dass er jedoch, wie auch immer er lebt und handelt – selbst auf jede nur erdenkliche Art – im Göttlichen, im Spirit, in der ewigen Wirklichkeit seines Seins lebt und handelt.
Aus: Sri Aurobindo, Zyklus der menschlichen Entwicklung, Das spirituell-geistige Ziel und das Leben
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