Kein Hindernis – nichts steht im Weg

 

 

17. November 1973

 

Vor unseren Augen bohrte man fünfundzwanzig Schrauben in ihren Sarg. Ein Sonnenstrahl fiel auf ihren Nacken; ihre Hände waren zusammengepresst – eine solche Kraft lag in ihren Händen, eine solche Macht in diesem angeblich toten Körper! Und diese unbeugsame Konzentration ...

 

Der ganze Handlungsablauf zieht an unseren Augen vorbei – so viele Jahre und dieses alles durchdringende Lachen eines jungen Mädchens und dieses Schweigen aus Schnee, dieser Flügelschlag durch unendliche Räume, dieses solide Feuer, das den ganzen Körper wie in einer konkreten Liebe entflammt. So viele Mysterien.

"Der Tod ist das Problem, das zu lösen mir aufgetragen wurde." ...

 

Aber die Menschen? Die Geschichte? Müssen weitere Millionen Menschen sterben, noch mehr Schmerzen über Schmerzen? – Wann wird die immerwährende Liebe sein? Wann eine strahlende Erde?

 

   Ist es wieder einmal für später? 

 

 

 

"Eine neue Art zu sterben muss möglich sein", sagte sie 1963. Sie sprach so oft von diesem "Tod" – auch Savitri machte sich auf, Satyavan im Tod zu suchen. Was ist dieser Tod?... Der Sarg? Dieses Grab aus grauem Marmor, auf den sie Räucherstäbchen und Blumen legen werden, während sie ihre eitlen Geschichten fortsetzen? Und innen dieses gewaltige Schweigen... dieser aus Macht geschmiedete Körper. Jede seiner Zellen wiederholte das Mantra während so vieler Jahre und Minuten und Sekunden: OM Namo Bhagavaté, OM Namo Bhagavaté...

Ist das alles? Ist hier das Ende?

Aber dieser Krishna in Gold hat die Ketten der alten Heiligtümer gesprengt ...

 

"Ein Ort ähnlich dem Sportplatz. Ein paar Leute hier und dort sprechen und gehen umher.

Ich stehe irgendwo in der Mitte des Platzes vor Mutters Tür.

Durch den Haupteingang fährt ein Fahrzeug herein – halb Karren, halb Droschke – gezogen von zwei Ochsen. Es kommt einige Meter vor mir zum Stehen. Der Fahrer lässt die Ochsen niederknien. Heraus steigt ein Herr. Die Kutsche wird weggefahren.

Der Herr ist in weiß gekleidet, nach indischer Façon (Dhoti, Punjabi). Er hat ein rundes Gesicht und ist hellhäutig. Er erinnert mich an einen Zamindar [Landherrn] aus dem Norden Indiens. Tatsächlich ist es der neue Besitzer, der gekommen ist, um den Ort zu übernehmen.

Die Türen hinter mir sind verschlossen. Er hält die Schlüssel.

Aber einen bestimmten Raum darf er nicht öffnen: nämlich den, den ich für Mutters Wohnstatt halte. Aber er geht geradewegs darauf zu und schließt die Tür auf.

Er tritt ein. Ich auch, als sei ich dazu berechtigt.

Wir gehen tastend weiter bis zum Ende dieses Raumes. Ich erkenne eine Art kleines Fenster in der Rückwand. In der linken hinteren Ecke steht ein reich geschmückter hoher Thron. Auf dem Thron sitzt eine Gottesgestalt.

Der Gott wirkt ziemlich klein auf dem riesigen Thron. (Er ist circa 60 cm hoch.)

Er ist aus massivem Gold gefertigt.

Zu seinen Füßen liegen Zeichen und Gegenstände der Verehrung.

Als wir uns ihm nähern, steigt ein intensives Gebet, eine Aspiration in mir hoch. Wir stehen vor ihm und sehen ihn an – mein ganzes Wesen ist ein intensives Gebet und eine Anrufung. Der Gott erwacht zum Leben. Er lächelt flüchtig und steigt dann herab.

Er reicht mir kaum zur Brust und sieht aus wie ein kleiner Junge von acht oder zehn.

 

Zu dritt treten wir aus dem Raum. Die Szene hat gewechselt. Jetzt befinden wir uns auf dem offenen Land. Ein weites, unbegrenztes Gebiet breitet sich vor uns aus. Einige Felder sind bepflanzt, aber der größte Teil liegt brach.

Wir gehen weiter. Wir gehen auf dem engen Rand eines angepflanzten Reisfeldes zu unserer Rechten. Es ist grün. Ich bin dem Reis am nächsten. Der Herr geht außen. Der Gott befindet sich zwischen uns. Er hat einen komischen Gang. Er ist so schwer in seinem massiven Gold, dass er von einer Seite zur anderen zu schwanken scheint. Ich bin ein wenig besorgt und halte seinen Arm, um ihm zu helfen. Ich empfinde auch eine Zärtlichkeit wie zu einem Kind.

Dann wende ich ihm mein Gesicht zu, um ihn zu ermutigen. Aber statt dass ich auf ihn herabblicke, sieht er zu mir herab. Ich bin ganz erstaunt zu sehen, wie groß er während dieses kurzen Ganges von nur wenigen Schritten geworden ist. Jetzt bin ich es, die ihm kaum zur Schulter reicht. Er scheint zu einem Knaben von 13 oder 14 herangewachsen zu sein. Wie ich hinaufblicke, sieht er auf mich herab und lächelt. Oh, welch ein Lächeln! Äußerst liebevoll und voller Schalk. Es enthält eine ganze Welt: "Siehst du, mir geht es gut. Nun wirst du sehen, wieviel Spaß wir haben!"

 

Wir wandern weiter. Zu unserer Linken sitzt M [ein in den Sanskritschriften sehr bewanderter Schüler] mit gekreuzten Beinen und gebeugtem Kopf. Im Weitergehen denke ich: "Wie schade, wir werden direkt an ihm vorbeigehen, er wird nicht einmal wissen, wer vorbeiging." Aber als wir näher kommen, hebt er seinen Kopf und sieht. Ich freue mich für M.

Wir gehen weiter. Jetzt wechseln die Szenen sehr schnell. Wir begegnen immer mehr Leuten. Bäume. Straßen. Noch mehr Leute. Wo immer wir hinkommen, herrscht Aufruhr, Störung, Verwirrung. Als würde die Gottheit überall Chaos verbreiten. Der Zamindar wird ärgerlich. Er hatte die Gottheit herausgebracht, um den Leuten zu zeigen, was für ein feiner Kerl er sei, und nun diese Bescherung!

Alle hätten ihm ihren Respekt bezeugen, ihm gehorchen sollen, denn war er nicht der Eigentümer? Aber der Gott erzielte genau die gegenteilige Wirkung! Er sollte nicht länger draußen sein. Er musste dahin zurückgebracht werden, wo er hingehörte, und wieder eingeschlossen werden.

 

So gehen wir zum Heiligtum zurück. Diesmal bleibe ich draußen. Der Zamindar bringt den Gott hinein und versucht, die Tür abzuschließen.

Aber die Gottheit will nicht eingeschlossen werden.

Ich kann den goldenen Gott immer mehr wachsen sehen.

Die Decke stürzt ein. Der Kopf und die Brust des Gottes stoßen durch das Dach. Er reißt die Wände ein und wirft die Ziegelsteine in alle Richtungen. Der Zamindar verschwindet unter dem Schutt.

Der goldene Gott wächst. Immer größer und mächtiger. Er duldet keinen Widerstand. Mit seinen mächtigen Händen reißt er die Wände seines alten Heiligtums nieder.

Beim Aufwachen nannte ich ihn `Krishna in Gold´."

 

                                         Sujatas Vision am Nachmittag des 15. Mai 1973 

 

 

   ... ausgelassen und übermütig zieht er über die Straßen der zurückgebliebenen alten Welt, überall Chaos, Zwist und Verwirrung verbreitend. Und überall die Sinnlosigkeit und die Illusion: die Wissenschaft und die Religionen, die Ideen und die Heilmittel, um das alte zerfallende Gerippe wieder auszubessern. Alles wird rissig, kracht zusammen, man spricht tausend Sprachen, und niemand versteht sich mehr. Die Staatspräsidenten gleichen Gauklern und die Gaukler den Weisen, und alles ist gleich, ob schwarz oder weiß, chinesisch, russisch oder amerikanisch. Und Krishna blinzelt uns zu: "Na, wartet, ihr werdet schon sehen! ..."

Die Bombe? – Nein, das wäre allzu kindisch. Das Ende der Illusionen, das Ende der menschlichen Illusion – da geht es um mehr, und es ist sehr verwirrend. Und wenn alles falsch wäre? Die Medizin und der Heilige Stuhl, Aristoteles und Euklid und die Vervielfältigung der Moleküle der Desoxyribonukleinsäure in alle Ewigkeit – und wenn es all das nicht gäbe? ... Ein heftigeres Erdbeben als alle ihre Hiroshimabomben zusammen. Unser mentaler Kahn für immer zerschmettert und der Mensch an ein unbekanntes Ufer geschleudert? ... Die Strandschnecke aus ihrem Gehäuse gekrochen. Und es war doch eine so imposante und mathematische Welt ... in diesem Gehäuse. Aber plötzlich gibt es kein Gehäuse mehr, keine "Mathematik" mehr – nur noch ... was?

Die gewaltigste Revolution der Welt.

Alexander der Große und Lenin und die Pompadour (samt Einstein und dem letzten Friedensnobelpreisträger) waren so imposant ... in dieser Strandschnecke. Aber ohne Strandschnecke ist es etwas anderes.

Ein gewaltiges ANDERES.

"Ich bin dabei, die Illusion aufzuspüren, die wir zerstören müssen, damit das physische Leben ununterbrochen sein kann... Der Tod kommt von einer Entstellung des Bewusstseins."

Und wenn alles in unserem mentalen Wasserloch "entstellt" wäre? Wenn unsere ganze Lebensweisheit, jeder unserer Schritte, unsere Distanzen, unsere Zeit, unsere Augen falsch wären? Der Blick eines Marienkäfers, einer Strandschnecke, eines Menschen – und dann die Augen von morgen!

Krishna in Gold ist dabei, die alte Kruste zu zerschlagen: die Kruste des Guten und des Schlechten, der Hoffnung und der Verzweiflung – die Kruste von Leben und Tod. Und wenn es gar kein "Leben" und gar keinen "Tod" mehr gäbe?

Ein schwindelerregender Blick.

 

Und die unverbesserlichen Menschen fahren fort, die Evangelien der Strandschnecke zu zitieren, Räucherstäbchen auf grauen Marmorgräbern zu verbrennen, Babies in die Welt zu setzen, während Krishna in Gold die Decken einstürzen lässt – wie werden sie aus diesem Umbruch hervorgehen?

In diesem Grab wiederholen Abertausende und Millionen von Zellen das Mantra, unablässig, unaufhaltsam – eine neue Schwingung untergräbt die Mauern der Welt. In diesem gewaltigen Schweigen setzt eine einsame kleine menschliche Form mit zusammengepressten Händen das Gebet der Welt fort, wiederholt den Anruf der Erde, geht weiter ... Sie wollten sie nicht mehr lebend haben – sie ist dabei, den Tod zu besiegen.

Dieser Schleier der Illusion über einer unbekannten Wirklichkeit.

Sie untergräbt den Tod von innen heraus.

Wenn nichts mehr von unseren Illusionen übrig bleibt, wird "Das" sein.

"Ich bewege mich auf einem äußerst schmalen Grat ..." Die Welt bewegt sich auf einem äußerst schmalen Grat. Wird sie auf die eine oder andere Seite fallen? ...

 

Mutter, was hast du diesen Menschenkindern zu sagen?

An diesem 18. November 1973 sagte sie uns etwas. Wir waren wie vom Donner gerührt, ein einziger Schmerz von Kopf bis Fuß, wir saßen zwischen diesen Hunderten und Tausenden von Leuten, die eine "Tote" anschauten. Die Ventilatoren surrten, die Neonlichter brannten; ein Duft von Räucherstäbchen und Jasmin lag in der Luft; sie beeilten sich, ihren Sarg zu zimmern. In unserem Herzen war ein so gewaltiges "Unmöglich" wie ein Schrei der ganzen Erde und aller schmerzbeladenen Menschen dieser Erde. Das war also das "Ende", es war wie immer – wie in Theben, wie in Babylon, wie in Buchenwald. Dort hörte es auf, und man beginnt von neuem. Es war so schreiend unmöglich. Niemals, niemals würde ich von vorn beginnen. Niemals, niemals ein "Noch-einmal" mit all seinen Schmerzen, all seinen Gebeten, diesem großen Daseinsschmerz für nichts. Millionen von Menschen in meinem Herzen, alle gleich, die so inbrünstig auf DIESEN MOMENT gewartet hatten. Und es gab keinen Moment. Wieder wird man Euklid lernen und die Schwerkraft der Körper ... in einem anderen Leben, und wieder dieser Schmerz und dieses "Glück", und wieder das Loch? Wir waren derart gebrochen und erschüttert an diesem 18. November – da war nichts mehr als ein betäubender Kopfschmerz und leere Augen, die auf diesen Todeszug starrten.

Und dann hatten wir plötzlich die ungeheuerlichste Erfahrung unseres Lebens. Wir hatten uns so oft bei Mutter beklagt, nie "Erfahrungen" zu haben. Wir waren in keiner Verfassung, eine Erfahrung zu haben oder uns zu konzentrieren oder zu beten oder sonst irgend etwas zu wollen – wir waren einzig dieser Kopfschmerz, dieser Körper, dem alles wehtat, diese Art von erschreckender Nichtigkeit, die auf eine kleine weiße Gestalt starrte. Eine unverständliche Maskerade. Es war falsch, zum Heulen falsch. Es war ein Traum, es war nicht wahr.

Das ganze Leben war nicht wahr.

 

Da nahm sie uns in ihre Arme. Sie hob uns über unseren Kopfschmerz hinweg, hob uns über die Menge hinweg, hob uns über all diese kleinen unverständlichen Körper hinweg – und dann ein Bersten. Wir traten in ein gewaltiges Glockengeläut ein – weit wie das Universum, jenseits aller Universen, aller Leben, aller Körper, und dennoch DARIN –, ein gewaltiges Glockengeläut, das die Welten hinwegfegte, die Schmerzen hinwegfegte, die Fragen nach dem Wie hinwegfegte, und wir waren nur noch in diesem gewaltigen Tönen, von dem jeder Schlag durch das Universum hallte:

 

KEIN HINDERNIS, NICHTS STEHT IM WEG

KEIN HINDERNIS, NICHTS STEHT IM WEG

KEIN HINDERNIS, NICHTS STEHT IM WEG

 

   ... ein ungestümes Läuten, und die ganze Welt erzitterte in einem Sturm von zwingender, unwiderstehlicher Freude – triumphierend. NICHTS STEHT IM WEG ...

Die neue Welt war nicht aufzuhalten.

   Es war da.

   Es war getan.

Unser ganzer Körper zitterte.

 

 

Satprem, Agenda der Mutter,

21. Juni 1981, Land's End

 

 


 

 

Kein Hindernis, nichts steht im Weg!

 

 

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