Auszug aus Mutters Agenda.

22. November 1958

Seit immer, seit ich sehr jung war, hatte ich eine Art Intuition meines Schicksals. Ich hatte den Eindruck, etwas tilgen zu müssen, mich aufbrauchen zu müssen. Irgendwie bis auf den Grund einer Nacht dringen, um zu finden. Ich glaubte, das wäre im KZ geschehen. Vielleicht war das noch nicht tief genug... Siehst du einen Sinn darin?

Das läßt sich kaum aussprechen, es ist eine Folge von Eindrücken. Ich weiß, als du vorhattest, mit dem Swami [1] zu gehen, sah ich, daß eine Tür sich öffnete, daß es die Wahrheit war, daß es DORT war.

Ich hatte sofort den Eindruck, das würde dich in direkten Kontakt bringen mit... dieser Art Fatalität, die man hier Karma nennt und die eine Folge ist von... ja, etwas, das abzutragen ist, das auf dem Bewußtsein lastet.

Die Dinge geschehen folgenderweise: das psychische Wesen geht von Leben zu Leben, aber in manchen Fällen verkörpert sich das Psychische zu dem Zweck, etwas... auszuarbeiten... eine bestimmte Erfahrung zu machen, etwas Bestimmtes zu lernen, etwas durch eine bestimmte Erfahrung zu entwickeln. Jetzt kann es geschehen, daß in dem Leben, wo die Erfahrung gemacht werden sollte, die Seele (aus den verschiedensten Gründen) nicht an den richtigen Ort kam oder es irgendeine Verschiebung gab, eine Verbindung ungünstiger Umstände – manchmal geschieht das –, und die Inkarnation bricht völlig ab, die Seele zieht sich zurück. Oder in anderen Fällen steht die Seele einfach vor der Unmöglichkeit, das Wesentliche zu tun, was sie wollte, und wird in... nachteilige Umstände verwickelt. Nicht nur objektiv nachteilig, sondern nachteilig für ihre eigene Entwicklung, und das führt sie zur Notwendigkeit, die Erfahrung unter sehr viel schwierigeren Bedingungen zu wiederholen.

Wenn dann – auch das kann ja passieren – der zweite Versuch wieder abgebrochen werden muß, wenn die Umstände es ihr noch schwieriger machen, ihr Vorhaben durchzuführen; weil sie sich zum Beispiel in einem Körper mit unzureichendem Willen oder einer Entstellung des Denkens, einem zu... zähen Egoismus befindet und das Leben mit Selbstmord endet, dann wird es fürchterlich. Das habe ich viele Male gesehen, das führt zu einem schrecklichen Karma, und es kann sich in Leben nach Leben wiederholen, bevor die Seele siegen und ihr Ziel erreichen kann. Jedesmal werden die Bedingungen schwieriger, jedesmal erfordert es eine noch größere Anstrengung. Und Leute, die das wissen, sagen: "Dem kann man nicht entrinnen!" Die Sehnsucht, dem zu entgehen, verleitet euch zu noch größeren Dummheiten [2], dadurch akkumuliert sich die Schwierigkeit noch weiter. In manchen Augenblicken – manchen Augenblicken und Umständen – gibt es niemand, der euch helfen könnte, und das ergibt... diese so schrecklichen Dinge, diese so abscheulichen Umstände...

Hatte die Seele aber auch nur EINEN Ruf, EINEN Kontakt mit der Gnade, so bewirkt dies, daß man im nächsten Leben einmal die Bedingungen findet, wo ALLES mit einem Streich weggefegt werden kann. Du kannst dir nicht vorstellen, wievielen Leuten, wievielen Seelen ich in dieser Zeit auf der Erde begegnete, die diese Möglichkeit so intensiv suchten – und sie fanden sich alle auf meinem Weg.

Manchmal bedarf es dazu eines großen Mutes, manchmal einer großen Ausdauer, manchmal genügt... eine wahre Liebe. Und wenn der Glaube da ist, dann genügt eine winzige Kleinigkeit, um... alles wegfegen zu können. Ich habe es oft getan; manchmal versagte ich. Aber meistens konnte ich es entfernen. Doch was es erfordert, das ist: ein großer stoischer Mut oder die Fähigkeit auszudauern und DURCHZUHALTEN. Der Widerstand (vor allem bei früheren Selbstmorden), der Widerstand gegen die Versuchung, diese Unfähigkeit zu wiederholen; diese Versuchung bildet eine so schreckliche Formation. Oder diese Gewohnheit, die sich dadurch ausdrückt, daß man vor dem Leiden flieht: fliehen, fliehen, anstatt... die Schwierigkeit aufzunehmen, standzuhalten.

Vor allem aber dies: das Vertrauen in die Gnade, oder die Wahrnehmung der Gnade, oder die Intensität des Rufens, oder natürlich die Antwort – die Antwort, der Knoten öffnet sich, zerbricht, die Antwort auf diese wunderbare Liebe der Gnade.

Ohne einen starken Willen ist es schwierig, vor allem anderen die Fähigkeit, der Versuchung zu widerstehen, einer über alle Leben hinweg verhängnisvollen Versuchung – denn ihre Macht akkumuliert sich. Jede Niederlage gibt ihr neue Kraft. Ein winziger Sieg kann sie auflösen.

Das schrecklichste von allem ist, wenn einem die Kraft, der Mut, etwas Unbezähmbares fehlt. Wie oft sagen sie mir: "Ich will sterben, ich will fliehen, ich will sterben" – ich erwidere: "Aber sterbt doch für euch selbst! Niemand bittet euch, euer Ego überleben zu lassen! Sterbt für euch selbst, wenn ihr sterben wollt! Habt diesen Mut, den wahren Mut, euren Egoismus sterben zu lassen."

Doch weil es sich um ein Karma handelt, ist es unerläßlich, selber etwas zu TUN. Das Karma ist eine Konstruktion des Egos; das Ego MUSS etwas tun, man kann nicht alles für es tun. Genau DAS ist der Punkt: Karma ist das Resultat der Handlungen des Egos, und wenn das Ego abtritt, löst sich das Karma auf. Man kann ihm helfen, man kann ihm beistehen, ihm Kraft geben, ihm Mut vermitteln, aber es muß sie einsetzen.

(Schweigen)

Das war es, was ich für dich sah, daß die Kristallisierung dieses Karmas in einem Leben in Indien geschah, in dem du mit der Möglichkeit der Befreiung konfrontiert wurdest, und... Die Einzelheiten kenne ich nicht; die materiellen Tatbestände kenne ich überhaupt nicht; bis jetzt weiß ich nichts, ich hatte nur die eine Vision. Ich sah dich, wie ich es beschrieb, größer als jetzt, in einem indischen Körper, aber nordindisch, denn er war nicht dunkel, sondern hellhäutig, aber mit einer HÄRTE im Wesen, die Härte einer Art Verzweiflung vermischt mit Auflehnung, Unverständnis und einem Ego, das sich widersetzt. Das ist alles, was ich weiß. Das Bild war: du, mit dem Rücken gegen ein Bronzetor gedrängt – GEDRÄNGT. Den Grund dafür sah ich nicht. Und, wie gesagt, etwas geschah und ich konnte es nicht weiterverfolgen.

Der andere Hinweis war, was ich dir neulich sagte. Als du den Swami begleiten wolltest, sah ich sofort einen Lichtstrahl: ah, der Weg öffnet sich! Deshalb sagte ich: es ist gut. Und während du in Ceylon unterwegs warst, folgte ich dir von Tag zu Tag. Du riefst sehr viel mehr als das zweite Mal, als du im Himalaja warst; und mit den physischen Schwierigkeiten, die du durchmachtest, war ich dir sehr nah, sehr nah – ich fühlte die ganze Zeit, was geschah.

Als du in Rameswaram warst, sah ich ein GROSSES Licht, wie eine Glorie. Ein großes Licht. Dieses Licht war sehr stark über dir, beeindruckend, als du zurückkamst. Zugleich hatte ich aber das Gefühl, daß es beschützt werden mußte – umgeben, beschützt –, daß es sich noch nicht gefestigt hatte, gefestigt, bereit all den Dingen zu widerstehen, die eine Erfahrung zersetzen. Ich hätte dich isolieren wollen, wie unter einer Glasglocke, doch ich sah, daß dies mit den Vorteilen auch Nachteile bringen würde. Und mir gefiel die Art, wie du gegen den unverständigen Empfang wegen deinem Gewand, deinem geschorenen Kopf ankämpfen wolltest. Selbstverständlich war das ein viel kürzerer Weg als der andere, aber ein schwierigerer.

Ich hatte den wachsenden Eindruck, könnte sich das verwirklichen, was ich sah, wie ich es sah... Ich sah zwei Dinge: eine Reise – überhaupt keine Pilgerfahrt im herkömmlichen Sinne – eine Reise in Einsamkeit, unter schwierigen Bedingungen, ein Aufenthalt in sehr schroffer Einsamkeit, angesichts der Berge, in schwierigen physischen Bedingungen. Die Berührung mit der Erhabenheit der Natur verübt in bestimmten Augenblicken einen großen Einfluß auf das Ego: sie hat die Macht, es aufzulösen. Aber all diese Geschichten, die organisierten Pilgerfahrten und all das... der ganze kleinliche Aspekt des menschlichen Lebens verdirbt alles...

Ja, diese Reise war abscheulich...

...verdirbt alles.

Das andere war die tantrische Initiation. Aber ich wünschte mir eine Initiation in wenigstens ebenso günstigen Bedingungen wie in Rameswaram, das heißt durch jemand sehr Fähigen, soweit als möglich vor der formalistischen und äußeren Seite beschützt. Eine WAHRE Initiation: jemand, der fähig wäre, die Macht herbeizuziehen und der dich in genügend rigorose Bedingungen versetzen könnte, damit du diese Macht halten könntest – sie empfangen und sie halten.

Sobald du abgereist warst und ich euch folgte, sah ich, daß nichts von alledem geschehen würde, sondern etwas sehr Oberflächliches ohne großen Nutzen. Als ich aber deine Briefe erhielt und sah, daß du in Schwierigkeiten warst, tat ich etwas. Es gibt bestimmte besonders günstige Orte für okkulte Erfahrungen, Benares ist einer dieser Orte, die Atmosphäre dort ist geladen mit den Schwingungen okkulter Kräfte, und wenn man über die geringsten Fähigkeiten verfügt, entwickeln sie sich dort spontan. Genauso, wie die spirituelle Aspiration sich sehr stark und spontan entwickelt, sobald man nach Indien kommt. Das sind Gnaden. Gnaden, weil dies die Bestimmung des Landes ist und seine Geschichte war und es sich immer sehr viel mehr nach oben und nach innen wendete als nach außen. Jetzt ist es dabei, all das zu verlieren und sich im Schlamm zu wälzen, aber nun... es war so und es ist noch immer so. Als du mit deinem Gewand von Rameswaram zurückkamst, sah ich wirklich mit großer Befriedigung, daß noch eine GROSSE Würde und eine GROSSE Aufrichtigkeit in dem Streben der Sannyasins für ein höheres Leben und die Selbsthingabe bleibt – in einer gewissen Anzahl von Leuten, um dieses höhere Leben zu verwirklichen. Als du zurückkamst, wurde das etwas sehr Konkretes und sehr Wirkliches, das sofortige Hochachtung erweckte. Vorher hatte ich nur eine Kopie, eine Nachahmung, eine Heuchelei, ein Schauspiel gesehen – nichts wirklich Erlebtes. Hier sah ich, daß es wahr, erlebt, wirklich war, daß es noch ein großes Erbe von Indien darstellt. Ich glaube aber nicht, daß es jetzt noch sehr weitverbreitet ist. Jedenfalls ist es noch vorhanden und, wie ich sagte, dem gebürt Hochachtung.

Als ich dich dann in Schwierigkeiten fühlte, und die äußeren Umstände nicht nur die innere Entwicklung verschleierten, sondern sie verdarben, da schrieb ich dir etwas Kurzes (ich erinnere mich nicht mehr genau, wann, aber ich schrieb nur ein, zwei Worte, steckte sie in einen Umschlag und schickte sie dir), aber diese zwei Worten begleitete ich mit einer großen Konzentration, sandte dir etwas. Ich habe die Daten nicht verglichen, aber wahrscheinlich geschah es, wie ich wollte, als du in Benares warst, und du hattest diese Erfahrung.

Als du das zweite Mal zurückkamst, nach deinem Aufenthalt im Himalaja, hattest du nicht mehr dieselbe Flamme wie das erste Mal. Da verstand ich, daß dieses schwierige Karma noch andauerte, es war noch nicht aufgelöst. Ich hatte gehofft, der Kontakt mit den Bergen – aber in einer wahren Einsamkeit (ich will nicht sagen, daß dein Körper alleine sein müßte, sondern ohne all die äußeren und oberflächlichen Dinge)... Nun, es ist nicht geschehen. Das bedeutet, daß die Zeit noch nicht gekommen war.

Als die Schwierigkeiten hier dann wieder auftauchten, kam ich aufgrund ihrer Beharrlichkeit, ihres Anscheins unabwendbarer Fatalität zu dem Schluß, daß es ein Karma ist – sicher wurde ich mir dessen erst jetzt.

Schon immer hatte ich aber die Vorahnung der wahren Lösung: daß das nur durch eine SEHR MUTIGESelbsthingabe aufgelöst werden kann – nicht mutig oder schwierig in materieller Weise, sondern... Ein bestimmter Bereich des Vitals in dir, ein mentalisiertes, noch sehr materielles Vital, das sich leicht von den Umständen beeinflussen läßt, das stark an die Wirksamkeit äußerer Maßnahmen glaubt – das ist es, was sich widersetzt.

Doch dies ist alles, was ich weiß.

Wenn die Stunde gekommen ist, daß ein Karma überwunden und in der Gnade absorbiert werden kann, erscheint mir meistens das Bild oder das Wissen oder die Erfahrung der genauen Tatsachen, die den Ursprung des Karmas ausmachten, und in dem Moment kann ich... die reinigende Geste ausführen.

Bis jetzt ist das noch nicht geschehen.

Nur – und das ist es, was ich dir neulich schrieb und was du nicht verstanden hast – gerade am schmerzlichsten Punkt, wenn man die stärksten Suggestionen durchmacht, genau dann muß man durchhalten. Sonst ist es immer wieder von vorne anzufangen, immer wieder. Ein Tag, ein Augenblick kommt, wo es getan werden muß. Und jetzt ist wirklich eine Gelegenheit auf der Erde, die sich nur einmal in Jahrtausenden anbietet, eine bewußte Hilfe, mit der notwendigen Macht...

Das ist in etwa alles, was ich weiß.

Irgendwie verspüre ich das Bedürfnis, etwas zu tun – etwas zu tun.

Etwas TUN, ja, das hat dich im Griff.

Ich bin dabei vor Ort zu verrotten.

Wie?

Ich... ich habe den Eindruck, vor Ort zu verrotten.

Verrotten?

Zu zerfallen. Alles zerfällt.

Das ist es gerade... (Schweigen) Das ist der Knoten des Karmas: dieses Gefühl, dieser Eindruck macht den Knoten des Karmas aus.

Mein Eindruck ist, daß ich etwas zu tun habe, ich weiß nicht was, und danach...

Aber du betrachtest es als etwas physisch zu Tuendes?

Ja, ich weiß nicht, diese Geschichte mit dem belgischen Kongo zum Beispiel, das schien mir... [3]

Entschuldige, aber das ist eine Albernheit!...

Ich weiß nicht. Ich verspüre es jedenfalls nicht so... Physisch im Urwald zu leben, ein intensives physisches Leben, in dem man frei ist, rein ist, fern von... Vor allem das hier nicht ankurbeln, vorbei mit dem Kopf, aufhören irgend etwas zu denken. Und wenn es ein Yoga geben soll, dann geschieht es spontan, natürlich, physisch, und ohne sich eine einzige Frage hier oben zu stellen – vor allem, daß der Kopf nicht mehr weiterläuft.

 

1 Der Tantra-Guru, den Satprem in Ceylon aufsuchte und mit dem er in den Himalaja ging.

 

2 Mutter erläuterte: "Die unbewußte Erinnerung an die Vergangenheit erweckt eine Art unwiderstehliches Verlangen, der Schwierigkeit zu entkommen, und man begeht wieder dieselbe Dummheit oder eine noch größere."

 

3 Satprem wollte in den Urwald im Kongo gehen und dort die unmöglichsten Dinge tun.